Unterentfelden/Suhr
Ein Baustellenweg erlöste die Sargträger

Jahrhundertelang schleppten die Unterentfelder ihre Toten mühsam nach Suhr –bis ihnen die Aarauer mit dem Bau des Gönhard-Stollens in die Hände spielten

Katja Schlegel
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Erich Baumann vor dem Schild im Gönhardwald, das den alten Totenweg von Unterentfelden nach Suhr markiert.Chris Iseli

Erich Baumann vor dem Schild im Gönhardwald, das den alten Totenweg von Unterentfelden nach Suhr markiert.Chris Iseli

Chris Iseli

Rasch fährt die Hand ins Gestrüpp, krallt sich an den nächstbesten Ast. Schwein gehabt. Fast hätte der glitschige Weg ein Opfer gefordert. Dick klumpt die Erde an den Sohlen, die Dreckspritzer verteilen sich auf den Hosenbeinen bis hinauf zu den Knien. Nimmt der Spaziergänger von heute das freiwillig in Kauf, blieb den Unterentfelder Kirchgängern damals gar nichts anderes übrig.

Über Jahrhunderte hinweg mühten sie sich ab, unter den Füssen der morastige, stotzige «Toteweg», auf den Schultern oder einer Trage der Sarg, der zur Beerdigung nach Suhr gebracht werden musste. Man stellt sich schaudernd vor, wie sich der Trauerzug schlitternd durch den Wald bewegte, die anständigen Kleider verdreckt, auf den Schultern der Leichnam, der im Sarg von einer Seite zur anderen rutschte.

Jahrzehntelang bettelten die Unterentfelder in rührigen Bittschreiben beim Kanton um einen anständigen Weg – Besserung brachten schliesslich die Aarauer, wenn auch eher zufällig. Hier liegt der Grund, weshalb der Spazierweg zwischen Unterentfelden und Suhr «Kirchweg» heisst, obwohl doch weit und breit keine Kirche steht, und mitten im Gönhardwald der «Toteweg» ausgeschildert ist.

Erich Baumann, 30 Jahre lang als Gemeindehelfer bei der reformierten Kirche Unterentfelden tätig, hat sich an diese merkwürdige Geschichte erinnert, nachdem in der az der Artikel über den Gönert-Stollen zwischen Suhr und Aarau erschienen war.

Auf der Karte von 1881 sind der «Todtenweg» und der «Kirchweg» noch eingezeichnet.Bundesamt für Landestopografie swisstopo

Auf der Karte von 1881 sind der «Todtenweg» und der «Kirchweg» noch eingezeichnet.Bundesamt für Landestopografie swisstopo

1000 Jahre Fussmarsch

Doch der Reihe nach: Über tausend Jahre lang gingen die Unterentfelder in Suhr zur Kirche. Suhr war eine frühmittelalterliche Urpfarrei, die bei Ausgrabungen gefundenen Fragmente der allerersten Kirche datieren vom 7. Jahrhundert. Die Urpfarrei umfasste Aarau (die Stadt wurde erst 500 Jahre später gegründet), Oberentfelden, Unterentfelden, Buchs, Rohr, Rupperswil, Hunzenschwil, Untermuhen und Gränichen.

Oberentfelden schied 965 aus dem Pfarrverband aus, Gränichen löste sich ums Jahr 1300 ab, Aarau 1404, 1681 folgte Rupperswil. Zwischenzeitlich wurde Unterentfelden der Pfarrei Oberentfelden angeschlossen, ging aber in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder an Suhr zurück. Eigenständig wurde Unterentfelden erst 1959.

Und so blieb den Unterentfeldern nichts anderes übrig, als jeden Sonntag und Feiertag, für den Konfirmandenunterricht, für Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen den Weg nach Suhr unter die Füsse zu nehmen. Erich Baumann marschiert mit uns den Totenweg ab:

Vom Dorf durch den Boll – «da, wo Generationen von Kindern Skifahren gelernt haben» – in den Gönhardwald, wo der Weg den Hang zur halben Höhe ansteigt und bis zum Waldrand oberhalb des «Lätthofes» führte.

Da ging er bis zur Talsohle steil bergab und stieg bis zur Kirche unter dem Suhrerkopf wieder an. Der Weg muss bei Regen und im Winter so schlecht gewesen sein, dass die Leute bis über die Fussknöchel im Dreck versanken und sie den Leichenwagen stehen lassen und den Sarg tragen mussten, wie Walter Linder, der verstorbene Lehrer und Dorfchronist im «Postillon» von 1980 schreibt. Älteren Menschen sei es deshalb oft unmöglich gewesen, ihre Liebsten auf dem letzten Weg zu begleiten – ausser sie nahmen den zeitraubenden Umweg über Aarau in Kauf.

Nicht, dass sich die Unterentfelder nicht für einen besseren Weg eingesetzt hätten. In einem Schreiben an den Regierungsrat 1844 schrieb der Gemeinderat herzergreifend: «Manche Person, die an Sonn- und Feiertagen sich gedrungen fühlt, in den Gottesdienst zu gehen, wird wegen dem schlechten Weg gehindert und hiedurch um Anhörung des göttlichen Wortes, um Erbauung und Stärkung zu gutem Wandel, verkümmert ...»

Der Weg gleiche bei nasser Witterung «einem Labyrinth oder einer Lache», und wenn man an die Menschen denke, die den Weg benützen, so werde man, «wenn noch ein Funken Menschengefühl vorhanden ist, zum Mitleid bewogen». Doch der Regierungsrat reagierte nicht. Es war der Zufall, der den Unterentfeldern half.

Vor vollendete Tatsachen gestellt

1854 raffte eine Choleraepidemie Dutzende Aarauer dahin, worauf die Stadt beschloss, die Trinkwasserversorgung zu verbessern. Also bauten die Aarauer den Gönert-Stollen, der das Trinkwasser sauber in die Stadt führen sollte. Um diesen Tunnel bauen zu können, legten sie einen Zufahrtsweg zur Baustelle in der Brüelmatte an.

Die Unterentfelder packten die Gelegenheit beim Schopf und machten aus der Baustellenzufahrt ihren Kirchweg, verlängerten ihn bis zum Lätt und stellten die Aarauer vor vollendete Tatsachen. Die Aarauer duldeten das. Trotzdem dauerte es noch einmal zehn Jahre, bis auch der Aarauer Stadtrat den Unterentfeldern offiziell das Wegrecht gab – auf ewige Zeiten.

Die nächsten Jahrzehnte lang gelangten die Trauerzüge trockenen Fusses nach Suhr und die Särge wurden gefahren; erst mit einem Brückenwägeli, später mit einem einspännigen Leichenwagen. 1947 dann bekam Unterentfelden einen eigenen Friedhof. Weil es aber noch keine Kirche gab, wurde im Gemeindehaus ein Kirchensaal eingerichtet. «Im Keller standen ein paar Kirchenbänke für die Gläubigen und vor dem Gottesdienst wurde das Glöggli auf dem Dach des Gemeindehauses geläutet», sagt Baumann.

Die eigene Kirche weihten die Unterentfelder erst 1960 ein. «Auch wenn der Kirchweg seither nicht mehr als solcher benutzt wird, so hat die Geschichte den Suhrern und Unterentfeldern doch einen wunderschönen Spazierweg beschert», sagt Baumann. «So bleiben die Gemeinden auf ewige Zeiten miteinander verbunden.»