Meisterschwanden
So hat die Strohindustrie den Charakter des einstigen Bauerndorfs verändert

Warum ist Meisterschwanden anders als die Nachbargemeinden? Die entscheidende Weichenstellung erfolgte vor fast 200 Jahren: mit der Ansiedlung der Strohindustrie.

Michael Hunziker
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Das Luftbild vom Sommer 1947 zeigt die industrielle Achse mit den Fabriken (links) und den Fabrikantenvillen (rechts).

Das Luftbild vom Sommer 1947 zeigt die industrielle Achse mit den Fabriken (links) und den Fabrikantenvillen (rechts).

Bild: ETH-Bibliothek Zürich/Fotograf Werner Friedli

Die Strohindustrie hat den Charakter von Meisterschwanden grundlegend verändert, die Entwicklung wesentlich geprägt. Auf die Anfänge, den Höhepunkt um 1900, den Einbruch nach dem Ersten Weltkrieg sowie die baulichen Zeitzeugen geht der Aargauer Historiker Simon Steiner in den neusten Beiträgen für die digitale Dorfchronik ein. Für diese ist er zusammen mit Historiker Patrick Zehnder verantwortlich.

Nach der Ansiedlung ab 1840 avancierte das einstige Bauerndorf Meisterschwanden – neben Wohlen – zu einem der bedeutendsten Standorte der aargauischen Strohindustrie, führt Steiner unter dem Titel «Meisterschwanden als Zentrum der Strohindustrie» aus. Eine massgebende Rolle spielte die Firma Gebr. Fischer. Diese gehörte zu den Vorreitern bei der Umstellung von der manuellen Flechterei auf maschinellen Betrieb. Es entstanden Fabriken mit Flechtmaschinenparks, zum Antrieb genutzt wurde Wasser- und Dampfkraft.

Erfolglose Verhandlungen über bessere Arbeitsbedingungen

Hergestellt wurden Strohgeflechte in unterschiedlichen Varianten, die exportiert und etwa zu Strohhüten weiterverarbeitet wurden. Um die Jahrhundertwende waren in Meisterschwanden gegen 1000 Menschen in der Strohindustrie tätig.

Blick auf den Briefkopf der damaligen Hans Fischer & Cie.

Blick auf den Briefkopf der damaligen Hans Fischer & Cie.

Bild: zvg/Sammlung Gemeinde Meisterschwanden

Die Unzufriedenheit wegen niedriger Löhne und langer Arbeitszeiten führte 1911 zu einem Arbeitskampf, hält Steiner weiter fest. Die Verhandlungen über bessere Arbeitsbedingungen scheiterten, es kam zur Gründung einer Gewerkschaft. Die Unternehmer der grossen Firmen in Meisterschwanden und Fahrwangen entliessen die Rädelsführer und schlossen alle Gewerkschaftsmitglieder aus.

In den Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit ging die Nachfrage zurück, verlor die Produktion von Strohgeflechten an Bedeutung. 1920 verschwand mit Gebr. Fischer das über lange Zeit grösste Unternehmen in Meisterschwanden. Die Strohhutfabrik Hüetli ging Ende der 1920er-Jahre ein.

Villa Fischer-Weber ist «der bedeutendste Profanbau»

Noch im 21. Jahrhundert zeugen zahlreiche Bauten von diesem Kapitel der Wirtschaftsgeschichte, schreibt Steiner im Beitrag unter dem Titel «Bedeutsames industrielles Erbe». Entlang des Dorfbachs entstand ein ausgeprägtes Industriegebiet mit Fabrikgebäuden, Villen und Arbeiterhäusern. Die älteste Produktionsanlage ist als «Lochfabrik» bekannt und stammt vermutlich aus den 1850er-Jahren. 1862 folgte der Bau der Strohhutfabrik Hüetli, später die als Kontor und «Bändelihaus» bekannten Geschäfts- und Produktionsgebäude der Gebr. Fischer. Realisiert wurden in den Jahren darauf weitere Fabrikgebäude sowie Wohnhäuser.

Die Aufnahme um 1900 zeigt die Fabrikantenfamilie Fischer-Weber vor ihrer Villa.

Die Aufnahme um 1900 zeigt die Fabrikantenfamilie Fischer-Weber vor ihrer Villa.

Bild: zvg/Sammlung Gemeinde Meisterschwanden

Die repräsentative Villa von Johann Friedrich Fischer-Weber ist samt reicher Innenausstattung noch weitgehend im ursprünglichen Zustand erhalten. Gemäss kantonaler Denkmalpflege ist das neubarocke Gebäude «der bedeutendste Profanbau dieser Art aus der Zeit um 1900 im Kanton Aargau».

Stimmvolk lehnte den «Hüetli»-Abbruch ab

Weil die Strohindustrie nach ihrem Niedergang im 20. Jahrhundert nicht durch neue Grossbetriebe ersetzt wurde, blieb ein wesentlicher Teil der baulichen Zeugen erhalten. Allerdings sei der Umgang mit dem architektonischen Erbe der Industrialisierung nicht unumstritten geblieben, wie etwa die Debatten über das Schicksal der früheren Strohhutfabrik Hüetli zeigten, fügt Steiner an. 2020 lehnte die Gemeindeversammlung einen Abriss ab. Einige Fabrikgebäude werden weiterhin gewerblich genutzt. Kontor und «Bändelihaus» beherbergen heute die Militärsammlung.

Lanciert worden ist die digitale Dorfchronik von Meisterschwanden im Jahr 2021. Die beiden Autoren Simon Steiner und Patrick Zehnder teilen sich die Arbeiten. Bis 2025 erscheinen auf der Gemeindewebsite voraussichtlich rund 50 Artikel, die kostenlos zugänglich sind. Die Artikel zur Strohindustrie werden im August und September aufgeschaltet.

So präsentierte sich das Fabrik- und Bürogebäude der Gebr. Fischer (links) neben der Fabrikantenvilla (rechts) im späten 19. Jahrhundert.

So präsentierte sich das Fabrik- und Bürogebäude der Gebr. Fischer (links) neben der Fabrikantenvilla (rechts) im späten 19. Jahrhundert.

Bild: zvg/Sammlung Gemeinde Meisterschwanden